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Demokratie erzählt. Geschichtspolitik im polnischen Parlament nach der Wende von 1989

Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Geschichtspolitik im Sinne der Konstruktion historischer Referenzen im Rahmen politischer Aushandlungsprozesse. Anstatt diese als „Missbrauch“ oder „Instrumentalisierung“ von Geschichte zu beurteilen, werden die komplexen Zusammenhänge zwischen Geschichte und Politik als Forschungsgegenstände in den Blick genommen die einen weitreichenden Erkenntnisgewinn versprechen.


„Vergegenwärtigungen“ von Geschichte erfüllen grundlegende Funktionen für politische Systeme – auch und in besonderer Weise für Demokratien. Geschichtspolitik ist von zentraler Bedeutung für die Stiftung von Parteiidentitäten, die Legitimation und Delegitimation von Entscheidungen, Akteuren und Systemen sowie für die Mobilisierung von Wählern. In postkommunistischen Transformationsgesellschaften, in denen Parteiidentitäten neu zu stiften sind und die eine Legitimierung des neuen Systems notwendig machen, erlangt Geschichtspolitik eine besondere Relevanz und Dynamik.


Die historischen Referenzen in der Politik werden als Form des “historischen Erzählens“ (Jörn Rüsen) verstanden und analysiert. Im politischen Aushandlungsprozess erhalten ihre Ausprägungen – so etwa das Einbringen eines historischen Gegenbeispiels zur kritischen Hinterfragung einer zuvor behaupteten, historisch begründeten Traditionslinie – eine politische Dimension. Dieses spannende Verhältnis zwischen Narration, Identität und Legitimität gilt es theoretisch wie empirisch zu ergründen.


Als Fallbeispiel wird der Demokratisierungsprozess Polens nach der Wende von 1989 herangezogen. Die Entwicklung des geschichtspolitischen Argumentierens und der historischen Narrative wird anhand der stenographischen Protokolle der Debatten des Sejm in den Jahren des Systemwechsels nachgezeichnet. Darüber hinaus werden die Parlamentsarchitektur (Raumnamen, Erinnerungstafeln etc.), Beschlüsse zur Erinnerung an Personen und Ereignisse, die Veränderung des Staatswappens sowie die Änderung des Staatsnamens und von Parteinamen als geschichtspolitische Medien untersucht.


Anhand der computergestützten (Atlas TI) Analyse der Reden ist es möglich, die quantitativen Zusammenhänge zwischen Politikern, Parteien, rhetorischen Mitteln sowie Inhalten, auf die Bezug genommen wird, herauszuarbeiten. Die Auswertungsmethode nutzt das Instrumentarium der Inhaltsanalyse (content analysis) und kombiniert dabei die deduktive mit der induktiven Weise der Kategorienbildung. Auf diese Weise wird ein möglichst detailliertes Bild der Geschichtspolitik des polnischen Parlaments in den Jahren der Demokratisierung nach 1989 gezeichnet. Gleichzeitig entwickelt die Arbeit innovative Zugänge auf der theoretischen und methodischen Ebene.


Es stellt sich heraus, dass insbesondere die Zwischenkriegszeit eine herausragende Rolle als Referenzpunkt für das polnische Parlament nach 1989 spielt. Zentrale Narrative, zum Beispiel jenes der Zwischenkriegszeit als goldenem Zeitalter, als Zeit der Unabhängigkeit, auf das mit Zweitem Weltkrieg und Volksrepublik eine Phase des Niedergangs und der Abhängigkeit folgte, woraufhin 1989 die ersehnte Unabhängigkeit wiedererlangt werden konnte, werden in ihrem Verhältnis zueinander analysiert. Sie wirkten sich – folgt man den theoretischen Grundlagen der Arbeit - auf unterstützende, wenn nicht gar ermöglichende Weise auf die Demokratisierung des politischen Regimes in Polen aus. Die inhaltliche Ausprägung der Narrative und ihr (Mächte-)Verhältnis zueinander ist wiederum bedingt durch die geschichtskulturelle Vorprägung der Sejm-Abgeordneten in der Zeit der Volksrepublik einerseits und das durch die Wahlergebnisse determinierte Kräfteverhältnis zwischen den Parteien andererseits.

Initiativkolleg "Europäische historische Diktatur - und Transformationsforschung"
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